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Von Margit Iffert-Roeingh
Nach dem Ende des Friedensprozesses gibt es in Diyarbakir nur erschöpfte und abgestumpfte Menschen / Große Zerstörungen in Cizre
DIYARBAKIR.
Nein, eine leichtlebige Stadt war Diyarbakir, die (heimliche) Hauptstadt der Kurden im Südosten der Türkei nie. Trutzig und schwer wie ihre Architektur so ist ihre Historie und so sind die Menschen. Doch etwas schien sich zu verändern in den zwei Jahren des Friedensprozesses: Zarte kleine Pflänzchen der Hoffnung schossen aus dem Boden. Kurdische Jugendliche tanzten an Newroz in den Straßen, Familien flanierten unbeschwert sonntags auf der berühmten alten Stadtmauer, junge Leute eröffneten Kulturcafés in den mittelalterlichen Gebäuden der Altstadt. Dort wurde gesungen, gegessen, gefeiert, gelacht. Die armenische St. Georgs-Kirche, vor fünf Jahren noch ein Gerippe, erstrahlte restauriert, lockte Besucher an – Christen, Muslime, Nicht-Religiöse. Nicht ein einziges Lächeln. Ein Jahr später. Im Frühjahr 2016 ist nichts mehr davon übrig.
Nicht ein einziges Lächeln.
105 Tage Ausgangssperre haben die Menschen zermürbt. Wer in diesem Tagen durch Diyarbakir geht, trifft auf erschöpfte, stumpfe Menschen. Ein kurzer Blick auf den Besucher aus Westeuropa, dann schauen sie weg, gleichgültig. Dabei kann man Fremde in der Stadt an einer Hand abzählen. Seit die türkische Regierung den Friedensprozess beendet hat und die Gewalt auf beiden Seiten explodiert, ist der Tourismus komplett zum Erliegen gekommen. Aber wer kann von Tourismus sprechen, wenn hunderte Menschen umgekommen sind, darunter Frauen und Kinder, wenn tausende ihr Hab und Gut verloren, wenn einer der am besten erhaltenen Teile der historischen Altstadt wochenlang beschossen wurde?
Auch Leichenteile?
Auch zwei Wochen nach Ende der Ausgangssperre weiß niemand, wie es nach den Kämpfen in dem Stadtviertel Sur wirklich aussieht. Die armenische Kirche steht dort, die aramäische Kirche, die Kursunlu Moschee aus dem 15. Jahrhundert. Über 600 als historisch registrierte Gebäude sollen nach Informationen der Rechtsanwaltskammer Diyarbakir zum Teil schwer beschädigt worden sein. Es ist noch nicht einmal möglich von der Magistrale aus einen Blick in die Gassen zu werfen. Die türkischen Behörden haben einen Sichtschutz aufgestellt, hohe Gitter, mit weißem Plastik verhängt. Wer stehen bleibt und in die Gassen schaut, wird sofort von der Polizei zurückgepfiffen: „Weitergehen!“ Das Einzige, was alle registrieren können: Täglich fahren Dutzende von Lastwagen Schutt aus dem Viertel ab. Nur Schutt? Oder auch Leichenteile? Das vermuten viele Einwohner. Rund 10 000 „Spezialkräfte“ hatte der türkische Staat hier im Einsatz – gegen rund 300 bis 400 militante Jugendliche und PKK-Kämpfer, die ein autonomes Gebiet ausgerufen, Barrikaden errichtet und sich in den Häusern verschanzt hatten. Über drei Monate dauerten die Kämpfe. 4700 Familien wurden evakuiert, alle Schulen waren geschlossen, medizinische Versorgung gab es nicht, alle Läden waren zu. Die Spannungen zwischen dem türkischen Staat und den circa 15 Millionen Kurden prägen das Land seit der Staatsgründung im Jahr 1923. In den 90er Jahren tobte ein blutiger Bürgerkrieg. Den Anfang 2014 ausgerufenen Friedensprozess begleitete Misstrauen auf allen Seiten. Jetzt regiert wieder der Hass. Schwere Artillerie setzte die türkische Armee in Cizre ein, einer 120 000-Einwohner- Stadt an der Grenze zum Irak, die sie seit September dreimal mit Ausgangssperre belegte, zuletzt 79 Tage lang. Im Wohnviertel Cudi ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Menschen holen die letzten Habseligkeiten aus ihren zerstörten Häusern. Und Kinder, kleine Jungen im Alter von acht, neun Jahren streunen über müll- und schuttübersäte Freiflächen inmitten der Häuserreste.
„Die Keller“
Immer wieder fällt in den Gesprächen über die Ausgangssperren ein Begriff: „Die Keller“. In der Südosttürkei weiß jeder, was gemeint ist. Kein Untergeschoss eines Hauses, sondern drei Keller in Cizre, in denen während der dritten Ausgangssperre mindestens 178 Menschen verbrannten. Die Zahlen stammen vom kurdischen Menschenrechtsverein IHD in Ankara. „Die Keller“ – sie sind ein Synonym geworden für die Brutalität des türkischen Staates im Vorgehen gegen die Kurden. Angeblich wurden dabei Kampflieder aus osmanischer Zeit gesungen. An den Hauswänden standen Parolen wie „Jetzt habt ihr die Macht der Türken zu spüren bekommen.“
In der Gewaltspirale.
Mit diesem Ausmaß der Gewalt habe keiner gerechnet, heißt es immer wieder. Als Initial für die brutale Wendung des Präsidenten Recip Erdogan werden die Wahlen vom 7. Juni 2015 gesehen. Der Wahlerfolg der prokurdischen HDP, die landesweit 13 Prozent der Stimmen erreichte, habe den Zorn des Präsidenten erregt und seine Pläne einer Verfassungsänderung zugunsten seiner Machtfülle (vorerst) zunichtegemacht. Im November ließ Erdogan erneut wählen – da steckte das Land bereits in der Gewaltspirale. Es gibt nach Einschätzung vieler kurdischer Politiker noch einen zweiten ausschlaggebenden Grund für das Vorgehen der türkischen Regierung, das in der Waffengewalt gipfelt, aber auch ein Klima der Angst erzeugt mit Festnahmen, Durchsuchungen, Verhaftungen – alles im Namen der Terrorbekämpfung. Stellvertretend für viele ist die Meinung Ahmed Türks, des Bürgermeisters von Mardin: „Durch Kobane werden die Kurden als Kraft wahrgenommen.“ Die Entwicklung in Syrien, das neue Selbstbewusstsein der Kurden, habe Erdogan als ungeheure Provokation empfunden. Schreckensnachrichten kommen seit fünf Jahren aus Syrien, mit dem die Türkei eine 900 km lange Grenze teilt. Jetzt dagegen sei die Südosttürkei selbst „Kriegsgebiet“ – viele Kurden benutzen immer wieder diesen Begriff, obwohl dieser Sprachgebrauch die Polizei und Justiz provozieren kann. Und sie sagen auch, dass sie fassungslos sind und damit nicht gerechnet haben. Es gibt kurdische Politiker, die hinter der Zerstörung einen perfiden Plan vermuten: eine bewusste Veränderung der ethnischen Zusammensetzung. Das Werkzeug: Zerstörung von kurdischen Städten, speziell denen, in denen die Opposition und der Rückhalt der PKK stark ist, und Neuaufbau mit Ansiedlung von arabischen sunnitischen Flüchtlingen aus Syrien. Genau diesem Plan spiele Europa auf Druck Deutschlands jetzt in die Hände.
„Merkel – bad!“
Überhaupt: Deutschland. Wurde die deutsche Regierung im vergangenen Jahr für ihre Waffenhilfe für die Peschmerga, die kurdischen Kämpfer im Nordirak, noch gerühmt, so wird sie jetzt geschmäht für ihre Flüchtlingspolitik und den EU-Vertrag mit der Türkei. Dass Kanzlerin Angela Merkel Erdogan vor der Wahl am 1. November mit einem Besuch die Ehre erwies, ist für viele unverzeihlich. In zwei Worten drückt eine Angestellte der Handelskammer in Diyarbakir die Meinung vieler Kurden aus: „Merkel – bad!“ („Merkel – schlecht!“; Red.)
Liegen auch Leichenteile unter dem Schutt auf den Lastwagen, die den Stadtteil Sur verlassen?
WELTKULTURERBE DIYARBAKIR
Erst seit weniger als einem Jahr sind Teile der Altstadt von Diyarbakir Unesco-Weltkulturerbe. Im Juli 2015 wurden die Festung von Diyarbakir und die Hevsel-Gärten darin aufgenommen. Die Zitadelle ist eine der größten antiken Festungsanlagen der Welt. Römer, Assyrer und Byzantiner haben ihre Spuren hinterlassen. Diyarbakir selbst ist mehr als 8000 Jahre alt. Die Stadt liegt am Tigris, ihre Stadtmauer ist aus schwarzem Basalt und bis zu 12 Metern hoch. Unterhalb der Stadtmauer ziehen sich die fruchtbaren Hevsel-Gärten bis zum Tigris hinunter. Über Jahrtausende haben sie die Bewohner der Stadt mit Obst und Gemüse versorgt. Jahrelang hat Diyarbakir auf die Anerkennung der Unesco gewartet. Damit einher gingen große Hoffnungen in die Entwicklung des Tourismus, der in den vergangenen Jahren im Aufschwung war. Derzeit warnt das Auswärtige Amt auf seiner Homepage vor Reisen nach Diyarbakir: www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/TuerkeiSicherheit.html)
IPPNW
Margit Iffert-Roeingh war mit einer Delegation der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) bereits zum dritten Male in der Südosttürkei, jeweils zu Newroz, dem kurdischen Neujahrsfest am 21. März. Die achtköpfige Delegation führte eine Reihe von Gesprächen, u.a. in Ankara mit Abgeordneten der Opposition im türkischen Parlament und mit der Deutschen Botschaft. Darüber hinaus gab es Gespräche mit kurdischen Lokalpolitikern, Rechtsanwälten, Ärzten, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten in Ankara, Diyarbakir, Cizre, Viransehir und Mardin. Um einen Termin bei der AKP in Diyarbakir bemühte sich die Delegation zehn Tage lang vergeblich
Diese Familie in Cizre holt ihr Hab und Gut aus dem zerstörten Haus.