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Zeitungsartikel vom 22.05.2017 der Allgemeinen Zeitung
MAINZ/BAD KREUZNACH – Es war morgens um kurz nach fünf, als die Haustürklingel Marine Nikoghosyan aus dem Schlaf riss. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wer das um diese Uhrzeit sein könnte. Dann der Schock: Vor ihr standen fünf Polizisten und zwei Mitarbeiter von der Ausländerbehörde, die ihr mitteilten: „Sie werden heute nach Armenien abgeschoben.“
Eine Stunde ließen sie Marine Nikoghosyan Zeit, um ihre siebenjährige Tochter Milena zu wecken und die wichtigsten Sachen zu packen. In zwei Koffer. Ihrem Freund Karlheinz Korb schickte sie eilig eine WhatsApp: „Die Polizei ist da.“ Danach war das Handy aus.
Brachiales Ende einer vierjährigen Hoffnung.
Es war der 5. Mai. Um 13.45 Uhr hob das Flugzeug von Frankfurt nach Armenien ab. Keine neun Stunden dauerte es, bis Marine Nikoghosyans Leben in Deutschland, das sie sich in vier Jahren aufgebaut hatte, zerstört war. Die ehemalige Regierungsmitarbeiterin war aus politischen Gründen aus Armenien geflüchtet. Im Mainzer Best Western Hotel machte sie im zweiten Lehrjahr eine Ausbildung zur Hotelfachfrau. Ihre Tochter besuchte in Bad Kreuznach, wo die beiden auch wohnten, die erste Klasse.
Als Katrin Maganuco, die Direktorin des Best Western Hotels, erfährt, was passiert ist, wendet sie sich an diese Zeitung. „Marine war immer sehr engagiert, hat extra den Führerschein gemacht und nie gefehlt“, sagt Maganuco. Die Hotelchefin sucht wie viele in ihrer Branche händeringend nach Fachkräften. Und versteht die Welt nicht mehr.
Nach zwei Stunden konnte sich die Familie noch voneinander verabschieden
Karlheinz Korb war am Morgen des 5. Mai direkt zur Wohnung seiner Freundin gefahren. Dort stand nur das Auto mit Milenas Schulranzen auf dem Beifahrersitz. Er holte Marine Nikoghosyans Eltern ab, die sich ebenfalls im Asylverfahren befinden und in Bad Münster am Stein wohnen. Zusammen fuhren sie zur Polizei, wo Marine Nikoghosyan und Milena noch ausharren mussten. Nach zwei Stunden konnte sich die Familie noch voneinander verabschieden. Karlheinz Korb versuchte bis mittags über seinen Anwalt, die Abschiebung durch einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht in Koblenz zu verhindern – vergeblich. In der Begründung heißt es, das Gericht verkenne nicht, dass die Antragsstellerin eine Ausbildung aufgenommen habe. „Allerdings hat diese nicht substantiiert vorgebracht, dass sie die Ausländerbehörde hierüber in Kenntnis gesetzt hätte (…).“
Wie Siegfried Pick, Pfarrer für Ausländerarbeit in Bad Kreuznach, erklärt, hätte Marine Nikoghosyan formal einen Antrag auf Ausbildungsduldung stellen müssen. „Dass sie eine Ausbildung macht, hatte sie der Behörde aber mitgeteilt“, weiß er. Pick verweist auf ein Merkblatt des rheinland-pfälzischen Integrationsministeriums. Demnach muss Flüchtlingen in der Regel eine Duldung erteilt werden, wenn sie einen wirksamen Ausbildungsvertrag vorlegen. Weitere Formalien müssten dann noch nicht erfüllt sein. Das Merkblatt ist datiert auf den 18. Mai, also fast zwei Wochen nach der Abschiebung. „Der beschriebenen Ablauf war in der Kreisverwaltung aber ebenfalls bekannt“, sagt Pick. „Die Ausländerbehörde hat eindeutig die falsche Entscheidung getroffen.“
„Sie ist ein absolut vorbildlicher Fall“
Dabei wurde in die berufliche Laufbahn der 36-jährigen Mutter in Deutschland durchaus investiert. 2015 nahm sie an der „Integrationsinitiative 300“ des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga) teil. Ein Projekt, mit dem der Verband auf den Fachkräftemangel in der Branche reagiert. Wie Dehoga-Präsident Gereon Haumann informiert, sei Marine Nikoghosyan eine von 40 Flüchtlingen gewesen, denen nach mehrmonatigem Deutschunterricht und einem Praktikum ein Ausbildungsplatz vermittelt werden konnte. „Sie ist ein absolut vorbildlicher Fall.“
Mit jeweils eigenen Briefen haben sich Hotelchefin Maganuco, Pfarrer Pick und Dehoga-Präsident Haumann an den für Bad Kreuznach zuständigen Landrat Franz-Josef Diel gewendet. Der CDU-Politiker konnte gegenüber der AZ wegen der komplexen Sachlage noch nicht erklären, wie es zu der Abschiebung kommen konnte. „Wenn hier tatsächlich etwas schief gelaufen ist, muss man das benennen.“ Diel will „schnellstens“ reagieren.
Vorübergehend bei einer Freundin untergekommen
Marine Nikoghosyan ist in Armenien mit ihrer Tochter vorübergehend bei einer Freundin untergekommen. Auf die Straße traut sie sich aus Angst vor dem Gefängnis kaum. Wer ihren Flug bezahlt, sollte sie nach Deutschland zurückkehren können, ist unklar. „Bevor ich nach Frankfurt gefahren wurde, musste ich meine letzten 750 Euro abheben, um die Tickets zu bezahlen“, erzählt sie am Telefon. „100 Euro durfte ich behalten.“ Karlheinz Korb löst gerade die Wohnung seiner Freundin auf. Auf seinem Handy zeigt er Fotos: Milena bei ihrer Einschulung, Marine im Best Western Hotel in Mainz.
Marine Nikoghosyan könnte ihre Ausbildung jederzeit fortsetzen, versichert Hotel-Direktorin Maganuco. Auch die kleine Milena könnte im Sommer in die zweite Klasse wechseln. Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr hat aber niemand.
DATEN & FAKTEN
Mit dem Integrationsgesetz wurde zum 6. August 2016 die Erteilung von Duldungen zu Ausbildungszwecken angepasst. Seitdem besteht für ausreisepflichtige Ausländer bei Aufnahme einer Berufsausbildung ein Anspruch auf Duldungserteilung über den Ausbildungszeitraum. Das befristete Aufenthaltsrecht kann zwei Jahre verlängert werden, wenn sie nach der Ausbildung in ihrem Beruf arbeiten („3+2 Regelung“).
Das Kommentar von Carina Schmidt zum Artikel „Hotel-Azubi plötzlich abgeschoben“ vom 22.05.17 der Allgemeinen Zeitung.
Ein Skandal
Carina Schmidt
zur Abschiebung der Armenierin
Die Ausländerbehörde hätte die armenische Auszubildende und ihre Tochter nicht abschieben dürfen. Es wäre vielmehr ihre Pflicht gewesen, sie beim Stellen des fehlenden Antrags auf Ausbildungsduldung zu unterstützen. Dass dies nicht passiert ist, ist nicht nur tragisch, sondern ein Skandal. Zum einen steht hinter jedem Geflüchteten ein
„Schlag ins Gesicht einer Branche mit Fachkräftemangel“
menschliches Schicksal. Zum anderen wird genau aus der Branche eine Auszubildende „abgezogen“, die händeringend nach Fachkräften sucht. Marine Nikoghosyan hatte sogar an einem Integrationsprogramm des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands teilgenommen. Ihr Fall könnte auch über Mainz und die Hotelbranche hinaus hohe Wellen schlagen. Wenn Mutter und Tochter nicht nach Deutschland zurückkehren dürfen, werden sich zahlreiche Arbeitgeber gut überlegen, ob sie das Risiko eingehen, in die Ausbildung eines Flüchtlings zu investieren. Die Betriebe müssen sich auf politische Entscheidungen, wie die Änderung des Integrationsgesetztes, verlassen können. Demnach gilt das Aufenthaltsrecht mindestens für den Ausbildungszeitraum und kann zwei Jalire verlängert werden. Der Fall Nikoghosyan zeigt deutlich, dass es bei der Integration jener Menschen nicht ausreicht, ihnen die deutsche Sprache beizubringen und ihnen einen Arbeitsplatz zu geben. Die Kommunen müssen eine Begleitkultur schaffen, die Flüchtlinge langfristig unterstützt, wenn es etwa um das Einhalten von Formalitäten geht. Da helfen auch keine Merkblätter aus dem rheinland-pfälzischen Integrationsministerium.